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Weder Spießer noch Revoluzzer

Schwerin, 03.05.2016 (sr). »Wir hatten ja nüscht im Osten... Nich´ ma Spaß!« - der Buchautor Mikis Wesensbitter entzauberte am vergangenen Freitag im ROCKPALAST das Märchen von den angepassten Ostlern mit

  • Veröffentlicht Mai 3, 2016

Schwerin, 03.05.2016 (sr). »Wir hatten ja nüscht im Osten… Nich´ ma Spaß!« – der Buchautor Mikis Wesensbitter entzauberte am vergangenen Freitag im ROCKPALAST das Märchen von den angepassten Ostlern mit bitterem Humor und einer guten Beobachtungsgabe.

 

Lesung
Mikis Wesensbitter am Freitag bei seiner Lesung im ROCKPALAST (c) schwerin-lokal

 

Von Stefan Rochow

 

»Wir hatten ja nüscht im Osten!«, so oder ähnlich hört man es immer wieder, wenn es um die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit geht. Auffallend dabei ist, dass die »Schäbigkeit des Lebens im Osten« vor allen von denen hinausposaunt wird, die es sich heute innerhalb der neuen Staatsordnung recht gemütlich gemacht haben. Vieles fällt hier auf die Erklärer selbst zurück. Viele Menschen in der ehemaligen DDR haben es satt, sich die Minderwertigkeit ihres Lebens von jenen Leuten erklären lassen zu müssen, die heutzutage ausschließlich dank Parteibüchern in öffentlichen Ämtern die höchste Stufe der eigenen Unfähigkeit weit überschritten haben.

 

Vieles konnte unter der Oberfläche der autoritären Spießigkeit eines herrschenden Apparates blühen, was heute leider viel zu schnell in Vergessenheit geraten ist. Einen Hauch von Erinnerung, vermittelte am vergangenen Freitag eine besondere Buchlesung im ROCKPALAST. Der Buchautor Mikis Wesensbitter las aus seinem Buch »Wir hatten ja nüscht im Osten … Nicht mal Spaß!«. Wer dabei ein eine ostalgietriefende Pathosrevue erwartete, der wurde enttäuscht.

 

Bier, Underground und Weiber

 

Wesensbitter beschreibt tagebuchartig das Jahr 1989 aus seiner Sicht. Für ihn beginnt das Wendejahr Neujahr wie jedes Jahr, mit einem Mordkater. Er ahnt nicht, dass er in das Jahr hineingesoffen hat, in dem sich um ihn herum – wie auch um 17 Millionen anderen Menschen – alles ändern wird. Politik interessiert den jungen Mann überhaupt nicht. Er gehört eher zu diesen Leuten, die die DDR-Administration gerne als »Asoziale« diffamierte. Den Weg einer »sozialistischen Persönlichkeit« hat er verlassen. Ihn interessieren Bier, Underground-Musik und vor allem Weiber. Er dealt mit Pornobildern und schreibt die verrücktesten Eingabebriefe an die DDR-Führung und führt die Machthaber damit vor. Die Stasi ist zwar längst auf ihn aufmerksam geworden. Für Mikis Wesensbitter scheint diese Auseinandersetzung aber ein großes Spiel zu sein, das ihm sogar Spaß macht.

 

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Der Tagebuchroman von Wesensbitter kommt so öde und plump daher, dass er mitreißt und man gerne zuhört. Er verliebt sich gleich am Anfang des Jahres in Anne. Beide Anfangzwanziger gehen zusammen nach Hause und verbringen eine Nacht miteinander. Fast romatisch wird es an dieser Stelle, wenn Wesensbitter diese Szenen beschreibt. Da liegen sie nun zusammen und höhren die heute fast schon vergessene Band aus den 80ér Jahren »Latin Quarter«. Für die beide ist die Band aus England eine Band aus einer anderen Welt. Es berührt an der Stelle. Schnell wird der Leser allerdings wieder auf den Boden der Realitäten zurückgeholt. »Verlieb Dich nicht in mich«, sagt Anne. » Ich warte auf Ausreisepapiere. Kann sein, dass ich bald weg bin.«. »Zu spät«, sagt Mikis Wesenbitter und an dieser Stelle erscheint dem Leser aller irgendwie logisch und doch völlig absurd.

 

»Ich will nicht aufstehen, ich will keine Realität und keinen grauen Ostberliner-Sonntag.«, schreibt Wesensbitter weiter und macht deutlich, wie die Stimmung zu dieser Zeit ist.

 

Spassbefreit und dumm

 

Immer wieder wird während der Lesung deutlich, wie sich Menschen auf ihre Weise gegen Autoritäten auflehnten, die sie längst nicht mehr ernst nehmen können. Hier haben sich Menschen bewusst abgesetzt und machen sich einen Spass drauss, die Verhältnisse in der DDR auf die Schippe zu nehmen. So schreiben sie aus Spaß immer wieder Eingabebriefe an die verschiedensten SED-Repräsentanten. So fordern Wesensbitter und seine Freunde in einem Schreiben an Volksbildungsministerin, Margot Honecker, dass sie sich um ausreichend »Monatshygieneartikel« im Bezirk Friedrichshain kümmern solle. Man müsse durch die ganze Stadt fahren, um solche Produkte kaufen zu können, die dann nichts taugen würden.

 

Erich Honecker bekommt einen Brief, in dem es um »Schweineformfleisch« geht, das als Lachs getarnt sei, um »ranzige rote Beete«, die frittiert als Pommes Frittes verkauft wird und Mitropasoljanka, die von »Vor-Vorgestern« stammt.

 

Ostberlins damaliger Oberbürgermeister Krack kann sich über ein Schreiben freuen, in dem die Qualität des Berliner Pils beklagt wird. Die DDR-Hauptstadt könne es sich daher nicht leisten, hier durch so schlechtes Bier in Verruf gebracht zu werden. Das untrinkbare Berliner Pilsner sollte daher lieber in Suhler Vollbier umbenannt werden.

 

Eine andere Eingabe widmet sich der wichtigen Frage, warum es eigentlich keine volkseigenen DDR-Tittenheftchen gibt.

 

Was hier mit Witz daherkommt und etwas an Dumme-Junge-Streiche erinnert, hat doch einen nachdenklichen Hintergrund. Die Autoritäten haben versagt und sind nicht fähig etwas zu verändern. Ihre Macht begründet sich lediglich auf einen Unterdrückungsapparat, mit dem Wesensbitter bald in Berührung kommt. Dabei wird deutlich, dass die Autoritäten zwar keinen Spaß verstehen, aber in ihrer Brutalität auch irgendwie dumm sind. Gegen den nihilistischen Nonsens der Mädchen und Jungs aus dem Prenzelberg sind sie am Ende doch machtlos und können nichts ausrichten.

 

»Schön, dass wir ganz weit weg sind von denen.«

 

Dem Erzähler kommt während des Jahres nach und nach alles .abhanden, was ihm selber Sicherheit gegeben hat. Bekannte gehen, seine geliebte Anne geht in den Westen, Arbeitskollegen machen sich auf den Weg in den Westen und die Auftragslage in seinem Betrieb verschlechtert sich zusehends. Am Schluss gehen dann auch die, an denen sich Wesensbitter bisher aufrichten konnte: Seine Lieblingsgegner der DDR-Administration. Alles scheint auf Anfang gesetzt und irgendwie weiss am Schluss niemand mehr, wo die Reise hingehen soll.

 

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Zum Jahresende steht der Erzähler mit einem anderen Mädchen auf der geschwungenen Brücke an der Insel der Jugend im Treptower Park in Berlin. Sie betrachten das Feuerwerk über der Stadt, übergeben sich, dann zeigt das Mädchen auf das Feuerwerk über der Innenstadt und sagt: »Schau mal, das sind die ganzen Freiheit-Idioten am Brandenburger Tor! Schön, dass wir ganz weit weg sind von denen.«

 

Die Lesung am Freitag im ROCKPALAST hat ein Bild von der DDR gezeigt, dass ein Generation beschriebt, die ihre engen Freiräume nutzt und auf ihre Art und Weise aufmuckt. Wesensbitter und seine Freunde machen einfach nicht mit. Sie stehen außerhalb dessen, was als Norm definiert wird. Sie waren mit ihrer Form des Widerstandes mit Sicherheit weiter als diejenigen, die heute gerne den »aufrechten Gang« in autoritären Regimen loben, dessen gallertartiges Rückgrat sich aber sehr schnell krümmt, wenn auch nur das kleinste Lüftchen der Anfechtung über die Landschaft haucht.

 

buch»Wir hatten ja nüscht im Osten … nich´ma Spaß!«
Broschiert: 166 Seiten
Verlag: edition subkultur; Auflage: 1., Buch mit CD (1. September 2015)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3943412229
ISBN-13: 978-3943412222
Preis: EUR 14,50

 

 

 

Written By
Redaktion

der digitalen Tageszeitung Schwerin-Lokal. Kontakt: redaktion@schwerin-lokal.de

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